Autobiographie


Dieser Text ist etwas länger, weshalb ich die Jump Break Funtkion benutze. Ich möchte nicht, dass, wenn man es nicht lesen möchte, elend lang runterscrollen muss, bis man zum nächsten Eintrag gelangt. Bei der Geschichte handelt es sich um eine Autobiographie mit einer Rahmenhandlung. Um die Themenbereiche mal ganz pauschal wiederzugeben: Tod, Freundschaft, Psychische Krankheiten, Einsamkeit. Freue mich über Kritik etc. Viel Spaß beim Lesen.

Ich wohne in einem Heim, seit kurzer Zeit. Das Zimmer, in dem ich wohne, war sieben Jahre unbewohnt. Niemand wollte dort leben, ich weiß aber nicht warum. Ich weiß auch nicht, was mit den letzten Bewohnern passiert ist. Heute fand ich einen vergilbten Briefumschlag unter meiner Matratze, genauer gesagt, er war unter eine Latte des Bettenrosts geklebt. Auf ihm stand, in Handschrift, AUTOBIOGRAPHIE. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, also öffnete ich ihn. 


Hi, ich bin Cat, Cat wie Katze. Obschon ich eher sagen sollte: Hi, ich bin Cat, Cat wie erbärmlich, schwach und kaputt. Doch - ich kann aus eigener Erfahrung berichten - das kommt nicht so gut an. Also vergleiche ich mich mit einer Katze. Ist doch super ; Katzen werden stets mit niedlich und liebenswert asoziiert. Das komplette Gegenteil von mir, aber bis das jemand rauskriegt, ist ja auch schon Zeit vergangen.
Meine Mutter sagte immer, ich sei intelligent, nein, ich hätte die Voraussetzungen zum Intelligentsein. Ich kann mit Sicherheit behaupten, dass dem nicht so ist. Aber ich möchte meine Mutter in kein schlechtes Licht rücken, ihre Annahmen waren oft sehr nahe an der Realität. Ich berichte im Präteritum, weil sie gestorben ist. Autounfall.
Ich lebe im Heim. Ich habe keine Familie. Ich kenne meinen Vater nicht und meine große Schwester ist weggegangen. Das hätte ich auch tun sollen, dann würde ich nicht hier enden, in mitten von aufmerksamkeitssuchenden Kindern, die ich gerne erwürgen würde.
Ich habe keinen Kontakt mehr zu Lily, so heißt meine Schwester. Sie ist nach Italien gezogen, ich weiß nicht warum, man wollte es mir nicht sagen. Ich war zu jung, und jetzt - jetzt ist keiner mehr da, der es mir sagen könnte.
Ich hatte ein schönes Leben. Mit Mama und Lil, aber auch ohne Lil, nur mit Mama. Es war immer schön. Ich hatte eine gute Sorte Mutter erwischt. Nicht so eine, die ihre Kinder schlug, keine, die trank und auch keine die konservativ jeden Spaß verbot. Ja, meine Mutter war super.
Im Heim habe ich nur eine Freundin, ihr Name ist Judith. Ich erinnere mich an den ersten Tag, an dem ich sie sah. Ich kam mit verweinten Augen an, habe meinen Koffer auf mein Bett geworfen und gequält gelächelt. Judith kam zu mir und sagte: "Hey, ich weiß wie man sich fühlt, wenn man von seinen Eltern ins Heim abgeschoben wird, weil man nicht mehr 'gewollt' ist. Ich hatte auch geweint, aber man gewöhnt sich dran. Also beweg deinen Arsch und komm raus, dann gehts dir besser." Ich schaute sie mit leeren Augen an und flüsterte leise: "Meine Mutter ist gestorben." - "Oh, das tut mir leid. Vergiss, was ich gesagt hab. Ich bin übrigens Judith, ich sehe kommen, dass wir mal gute Freunde werden." Ich dachte mir nur, nein eher nicht, doch jetzt ist sie doch meine beste Freundin. Sie ist so wie ich, sie hat einen Knall. Was auch immer, ich sagte: "Hi, mein Name ist Cat." - "Cat? Cat so wie Katze? Ich hatte auch mal eine Katze, ihr Name war Robby. Sie sah aus wie ein Tiger." Sie erzählte mir viel von Robby, ziemlich verrückte Geschichten. Als sie mir schilderte, wie sie Robbys überfahrene Leiche in Händen hielt und mit dieser weinend heim rannte, kamen mir fast die Tränen. Judith jedoch zeigte keine Emotionen. Ich weiß bis heute nicht, was genau in ihrem Leben passiert ist, dass sie so geworden ist, wie sie ist, doch mich hat es nie gestört, es nicht zu wissen. Ich weiß nur, dass ihr die Depression die Emotionen stahl.
Seit meinem ersten Tag im Heim, war ich eigentlich die ganze Zeit über nur bei Judith. Ich brauchte keinen anderen Menschen, sie reichte mir. Ich binde mich schnell an Menschen. Ich habe Judith alles anvertraut, all meine Gedanken, Gefühle. Sie hört immer zu, sie ist ein guter Mensch. Manchmal erinnert sie mich an meine Mutter und dann weine ich. Judith denkt dann immer, sie hätte etwas falsch gemacht, doch dem war noch nie so.

Ich würde gerne mein Aussehen beschreiben, doch ich habe mich nie so wirklich gesehen. Ich habe Spektrophobie, das ist die Angst vor Spiegeln, besser gesagt vor dem eigenen Spiegelbild. Zuhause hat meine Mutter alle Spiegel im Haus abgehängt. Sie hatte sich selbst immer nur in kleinen Taschenspiegeln angeguckt. Im Heim war es allen egal, außer Judith. Sie hat extra auf den Spiegel in unserem Zimmer verzichtet, wo sie sich doch täglich schminkt und frisiert. Trotzdem gibt es überall im Heim weitere Spiegel, auf Toilette, hier und da. Mittlerweile weiß ich genau, wo die Spiegel hängen, und immer, wenn ich vorbeilaufe, kneife ich meine Augen zu - oder gucke einfach weg. Selbst wenn mich der Gedanke quält, dass mein Spiegelbild da ist, der Spiegel mich sieht, ich ihn aber nicht. Seit dem Tod meiner Mutter ging es mir nicht mehr gut. Mir ging es schlecht oder aushaltbar, aber nicht gut. Ich wurde sehr depressiv und ich begann zu hassen. Mitmenschen, mich. Nur nicht Judith. Ich bekam immer Angstzustände, hatte Ängste, die mir neu waren. Platzangst, Angst vor Krankheit. Ich hatte mich völlig isoliert.
Ich dachte einige Wochen lang, ich hätte meine Mutter umgebracht. Ich hatte einen Traum, in dem ich mit in dem Auto saß. Und nicht nur das, ich saß am Steuer. Ich war in einen Baum gefahren, doch ich überlebte, im Gegensatz zu meiner Mutter.
Alle sagten mir, dass es nicht stimmte, doch ich wollte niemandem glauben, auch nicht Judith. Alle sagten mir, dass ein betrunkener Mann in das Auto meiner Mutter fuhr, doch ich glaubte, die eigentliche Wahrheit zu kennen. Es wurden Therapeuten angeheuert, die mir sämtliche Artikel vom Tod meiner Mutter gezeigt haben. Als ich ihnen nicht glaubte, begannen sie, mich pseudopsychologisch zu therapieren. Ich sollte meine Mutter und mich als Tier malen, ich sollte meine Erinnerungen an den Vorfall malen, ich sollte meine Augen schließen, mich konzentrieren und überlegen, was real ist und was nicht.
Ihr fragt euch sicher, was dann passiert ist, dass ich endlich wieder an die Version mit dem betrunkenen Mann glaubte. Ich habe aufgegeben.

Meine Angstzustände haben sich aufgrund vieler Therapien verbessert. Nur meine Depression frisst mich langsam aber sicher auf. Ich neige stark zu selbstverletzerischem Verhalten und Suizidgedanken. Worte, aus dem Mund meines Psychologen übernommen. Doch das stimmt wirklich. Früher fing alles harmlos an. Wenn ich sauer auf mich war, begann ich meine Finger in meine Oberschenkel zu bohren, bis es wehtat und länger. Ich bohrte die Fingernägel von Tag zu Tag tiefer in mein Fleisch, bis es irgendwann schon blutete. Judith bemerkte meine Wunden und erzählte von ihrer Depression. Sie beschrieb sie, als halbdurchsichtiges schwarzes Seidentuch. Man bekommt alles mit, spürt Schmerzen, doch ist mit sich selbst im Dunklen. Sie sagte mir, dass sie sich oft selbst verletzt hat. Schon lange bevor sie ins Heim kam. Doch im Heim wurden ihr sämtliche Rasierklingen abgenommen. Immer wieder hat sie sich neue gekauft, Messer aus der Küche geklaut oder mit sich mit anderen spitzen Gegenständen verletzt. Sie verglich sich mit einem blutdurstigen Dämon. Das machte mir Angst. Ich war damals zwölf Jahre alt, zwölf unschuldige junge Jahre - und ich hatte zu viel von der Welt erlebt. Ich habe die Seiten kennengelernt, vor denen andere zwölfjährige stets von ihren Eltern beschützt werden.

Judith erzählte mir, dass sie mit vierzehn begann zu trinken und rauchen. Sie hatte zwei Freunde, Crack und Crystal. Das ist keine Metapher oder ähnliches, ihre Freunde waren keine Drogen, aber so hießen sie. Beziehungsweise hatten sie sich so genannt. Judith hieß Cannabis. Sie nannten sich 3C. Ihre richtigen Namen waren Timo (Crack) und Elliot (Crystal). Sie hatten sich auf der Straße kennengelernt, Judith haute manchmal ab, wenn es ihr zuhause zu viel wurde. Crack und Crystal, die damals 16 waren, sind aber mittlerweile tot. Sie haben sich umgebracht, beide. Crack hat sich vor einen Zug geworfen und Crystal hatte auch theoretischen Suizid begannen. Aber nur theoretisch - Crystal, also Elliot ist an Crystal also Meth gestorben. Die Tode Judiths' beider besten Freunde hatten sie sehr runtergezogen. Manchmal erzählt sie noch von ihnen. So Dinge wie: "Mensch, wir waren grundauf verschieden. Ich meine, ich war pflanzlich, T war halbsynthetisch und Elly synthetisch, aber ey, ich hab diese Nutten soo geliebt, das ist nicht mehr schön. Die waren so alles, einfach so, alles, einfach so meine Welt und mein Halt." Nicht zu überlesen, dass sie bei dieser Aussage sturzbetrunken war, nicht, dass sie das nicht ernst meinte, aber ohne gegebenen Anlass redet sie nicht gerne nüchtern über die beiden. Ich hatte Judith mal ausversehen mit Cannabis genannt, und wenn ich euch einen Tipp gebe, dann: nennt sie niemals Cannabis. Erwähnt Cannabis am besten gar nicht erst in ihrer Gegenwart. Und auch nicht Crystal oder Crack, nein, am besten nicht.


Mit fünfzehn lernte ich meine erste große Liebe kennen, Toby. Toby Bakersfield. Ein echter Mädchenschwarm. Und ich war glücklich, so glücklich, es geschafft zu haben, seine Nummer 1 zu sein, wo er doch jede andere haben konnte. Doch irgendwann hat er bemerkt, dass ich nicht so war, wie er es gerne hätte.
Judith hatte oft Freunde, die sie immer mit ins Heim brachte, damit ich mir ein Bild machen konnte. Die meisten waren voll okay, doch bei einigen dachte ich mir, Ach Judy, du hast was besseres verdient. Das sagte auch Judith zu mir, als ich ihr Toby vorstellte, ja, genau in diesem Moment. Sie guckte ihn an und sagte es. Doch ich lies mich nicht beirren.
Toby ist nicht vom Heim, nicht direkt. Er ist der Sohn einer Pflegerin im Heim gewesen, man kannte ihn, man mochte ihn und ich liebte ihn. Seit unserer ersten Begegnung habe ich ihn geliebt, das klingt lächerlich, aber egal. Er war nun wirklich sehr charmant. Er lächelte mit einem Mundwinkel und fragte nach meinem Namen.
"Hi, ich bin Cat", habe ich gesagt. Ganz stolz. Versucht mir nicht anmerken zu lassen, dass ich ein Wrack bin, so wie die meisten hier im Heim. Ich wollte stark und feminin wirken. "Freut mich, Cat. Ich bin Toby."
Ich hatte schon manchmal zwischendurch Schwärmereien der anderen Mädchen mitbekommen. Hach, kennt ihr diesen Toby? Der sieht soo gut aus, aber er würde nie was von mir wollen, wie schade.Ich dachte mir immer nur, diese Mädchen seien oberflächliche Schnepfen, doch Toby war wahrhaftig die Rose im Gänseblümchenfeld. Schlechte Metapher, mir gefallen Gänseblümchen nämlich besser, doch es stimmt in sofern: Gänseblümchen sind klein, unschuldig, lieb. Rosen sind groß, prachtvoll - sie sind eigen, sich ihrer selbst bewusst, duften. Im Klartext: ich als Unkraut hab mich als Rose ausgegeben um ihm würdig zu erscheinen.
Toby fuhr fort. "Ich hab dich hier noch nie gesehen, ansonsten hätte ich dich früher angesprochen. Du bist ein besonderes Mädchen, anders, das merkt man sofort."
Hatte mein falscher Stolz in der Stimme diese Wirkung erzeugt? Ich hatte innerlich gestrahlt, äußerlich wollte ich mir nichts anmerken lassen. Ich wollte arrogant sein, nicht leicht zu haben. "Süß, aber das hab ich schon hundert mal gehört", sagte ich zwinkernd. Toby blickte entsetzt, doch er hing sich an mich dran. Er hat mir weiter geschmeichelt, "Dann hast du sicher schon hundert mal gehört, dass du wunderschön bist." Innerlich; Freudensprünge, äußerlich; Arroganz. "Hundert mal? Irgendwann hab ich aufgehört zu zählen, ich weiß nicht so genau." Ich hab mich richtig schlimm verhalten, doch Toby - ihm gefiel das. Er versuchte ständig, mich zu "erobern". Und irgendwann, lies ich das halt zu. Wir waren ein glückliches Paar, naja, von außen vielleicht. Naja, er war wahrscheinlich glücklich, nur ich nicht, ständig eine andere Person vorgebend. Doch irgendwann war mir das zu viel, ich hatte mich gezeigt, von meiner wahren Seite. Ich habe Schwäche und  Selbsthass  gezeigt und nicht mehr Arroganz und Selbstverliebtheit. Ich war dann, wie ich war, und das gefiel ihm nicht, also war ich schnell abgeschrieben. Naja, wer will schon Unkraut in seinem Garten?

Ich bin mittlerweile siebzehn, Judith einundzwanzig. Doch ich bin allein im Heim, Judith ist in eine WG gezogen und macht eine Ausbildung. Und mir wurde, mit meinen jungen siebzehn Jährchen, geraten, noch zu warten, bis ich entgültig selbstständig werde. Als Judith ging, habe ich wieder angefangen, mich selbstzuverletzen. Nicht wie ganz früher, mit in-die-Oberschenkel-kneifen, eher mit tief-in-die-Oberschenkel-schneiden. Es gab nunmal niemanden mehr, der mich abhielt, der mir seine Geschichten erzählte, der mir erklärte, warum ich es nicht tun sollte. Ja, ich bin siebzehn und kein kleines Kind mehr, doch ich habe es gebraucht.
Und heute war so ein Tag, so ein ganz schlimmer.
Ich saß in meinem Bett, im Halbdunklen, habe meine Beine, meine Arme angeguckt. Meine Schnitte, meine Brandwunden, meine Narben. Und ich habe etwas gemerkt: So kann das nicht weitergehen. Ich habe nichts von diesem Leben, und ich will nicht mehr von mir und der Welt wissen. Ich habe siebzehn Jahre hier verbracht, genug Jahre, um zu sagen, dass es mir hier nicht gefällt. Wenn ihr Fernseh guckt, und euch der Film nicht zusagt, schaut ihr ihn bis zum Ende? Nein. Und "in deinem Leben wird noch viel passieren" ist auch kein Argument. In dem Film wird auch viel passieren, einige Passagen werden euch vielleicht gefallen, doch ihr schaltet weg. Und so ist das Leben. Meins findet hier und jetzt ein Ende. Ich werde hier nicht mehr gebraucht, und niemand ist es wert hier weiter zu leiden. Außer Judith, doch sie ist jetzt weg, konnte noch in den Zug zum erfolgreichen Normalleben einsteigen. Sie sah die Dinge anscheinend nicht so wie ich. Doch ich werde ihr einen Brief schreiben. Ich werde ihr schreiben, dass ich mit meinem neuen Freund nach Amerika ausgewandert bin, dass ich glücklich bin, aber wir uns wahrscheinlich nie mehr sehen können. Ich werde schreiben, dass ich sie trotzdem nie vergessen werde, an sie denken werde und sie in meinem Herzen meine beste Freundin bleiben wird. Und das gleiche würde ich von ihr erwarten. So wird mein Brief sein, selbst wenn er eine Lüge ist. Etwas anderes wird sie nicht verkraften.
Auf Wiedersehen, oder eigentlich nicht, nein. - Cat (17. Juni 1999)

Ich schluckte. Das Datum ist circa sieben Jahre her, so lange, wie das Zimmer unbewohnt war. Ich bemerkte, dass die Autobiographie des Mädchens eine Art Denkmahl war. Sie hat ihr Leben aufgeschrieben, vielleicht weil man sie nicht vergessen sollte, oder weil man über ihre Geschichte nachdenken sollte. Ich wusste es nicht. Aber sie hat sich umgebracht, und das ist vielleicht der Grund, warum hier niemand wohnen wollte. Weil in diesem Zimmer sich ein Mädchen das Leben genommen hat.
Dann bemerkte ich, dass Judith wahrscheinlich noch lebt. Mit dieser Lüge. Ich weiß nicht wieso, aber ich verspürte den Drang, es ihr sagen zu müssen. Ich packte den Brief wieder in den Umschlag und rannte zur Leiterin des Waisenhauses. Ich fragte sie hastig, ob sie wisse wer Judith ist. "Wahrhaftig, ich kenne viele Judiths." Ich lächelte. "Diese Judith hatte in meinem Zimmer gewohnt." Die Pupillen der Leiterin wurde größer, doch sie lächelte schnell: "Ja?"
Ich sammelte all meinen Mut. "Haben Sie ihre Nummer? Ich muss unbedingt mir ihr reden." "Doch du kennst sie doch überhaupt nicht." "Ich weiß, aber es ist wichtig." Die Leiterin gab nach. Ich glaube, eigentlich wäre sowas gesetzlich nicht erlaubt, aber sie war nicht so eine Art Mensch, der sich daraus etwas macht. Vielleicht hat sie auch einfach gemerkt, dass es wirklich von Bedeutung war. Also gab sie mir einen Aufschrieb mit einer Handynummer. Ich bedankte mich und rief sofort an. Nach dem dritten Klingeln ging jemand dran. "Hallo?" "Judith, bist du's?" Ich kam mir richtig komisch vor. Ich sagte das, als wäre ich eine alte Freundin von ihr, dabei kenne ich sie nicht. "Ja, und wer ist dran?" "Du kennst, ich, äh, mein Name ist Jessica." "Ich kenne keine Jessica." "Ja, ich weiß. Ich muss unbedingt mit dir reden, es ist, wegen, äh, Cat." "Was ist mit Cat? Ist ihr was passiert?" "Das kann ich dir nicht am Telefon sagen, oder äh, lieber überhaupt nicht. Also nicht sagen, ich meine..." "Was willst du?" "Können wir uns treffen?" Judith sagte kurz nichts. Sie überlegte. Dann sagte sie schließlich "Einverstanden, wo?" Ich schlug den Rathausplatz vor. Er ist nach dem ehemaligen Rathaus dort benannt, jetzt wurde es zu einem Café. Von dort aus muss man nur paar Schritte laufen, und man kommt in eine Schrebergartensiedlung. Früher bin ich immer über den Zaun in die Gärten gehüpft, und war für mich allein. Es war schön. "Rathausplatz?" "Ja, der ist doch ganz in der Nähe vom Heim." "Heim? Achso, ja. Ich bin mittlerweile umgezogen und wohne nicht mehr in der Stadt hier. Aber wenn du unbedingt willst, fahr ich mit dem Zug her, das dauert dann aber." "Wie lange?" "Bis ich am Platz ankomme, so eine halbe Stunde." "Kein Problem, in einer halben Stunde am Rathausplatz!" - und ich legte auf. Judiths Stimme klang komisch, nicht komisch, aber anders, als ich sie nach diesem Brief erwartet habe. Ich hatte sie mir anders vorgestellt, nicht so erwachsen.
Als ich schließlich ne halbe Stunde später - wie vereinbart - am Rathausplatz stand, bemerkte ich, dass ich etwas nicht beachtet habe. Ich weiß nicht wie Judith aussieht - sie weiß nicht wie ich aussehe. Wie sollte ich sie erkennen? Ich setzte mich auf die Bank, beobachtete alle Leute. Ich schluckte, niemand sah so aus, als würde er jemanden suchen oder erwarten. Alle dachten sicher ich hätte einen Verfolgungswahn, so oft, wie ich mich umdrehte. Ich dachte, Judith hätte, aus welchem Grund auch immer, beschlossen doch nicht zu erscheinen. Ich würde es ihr nicht verübeln, schließlich weiß sie immer noch nicht, wer ich bin. Das Gestammle, welches ich am Telefon herausbrachte, klang sicher dubios. Ich überlegte bereits, wieder zurück ins Heim zu laufen, aber da es sich um eine wichtige Sache handelte, blieb ich geduldig, was letztendlich ein guter Entschluss war, da bereits eine Viertelstunde später eine Frau auf mich zukam. "Bist du Jessica?", fragt sie mich. Ich nicke. "Gut, was ist mit Cat?"
Ich steuerte den Weg Richtung Schrebergärten an. Und dann erzählte ich ihr von der Autobiographie. Dass ich einen Brief gefunden habe, in dem Cat über ihr Leben schrieb, und ganz viel über sie, also über Judith. Judith hatte sich gefreut, dass sie so wichtig für Cat ist. Sie erzählte mir, wie gut es ihr jetzt ginge. Sie hat eine eigene Wohnung und hat einen Blumenladen. Ihr Einkommen sei nicht das Höchste, doch sie sagt, sie liebe ihren Job. Sie liebe den Geruch von Blumen und die Freude im Gesicht der Menschen, denen sie einen schönen Strauß gemacht hat. Ich lächelte, und sagte ihr, dass es toll klinge. Mittlerweile waren wir bei den Schrebergärten angekommen. Ich war lange nicht mehr hier, nicht nur ich, es schien so, als wäre jeder lange nicht mehr hier gewesen. Die Gärten waren verwarlost, überall Unkraut, alle Blumen vertrocknet. Ich stieg über einen halbkaputten Zaun. Judith schaute mich kurz skeptisch an, doch sie folgte mir. Wir setzten uns auf eine morsche Holzschubkarre und ich holte den Brief hervor. Ich gab ihr ihn, sie strich über den Schriftzug. "Soll ich ihn öffnen?", fragte sie. Ich nickte. Dann las sie den Brief. Dabei lächelte sie oft, einmal hat sie sogar kurz laut gelacht. Doch zum Ende hin fing sie an zu schlucken. Ihre Augen tränten. Sie schaute mich nicht an, sie legte nur den Brief weg. Dann sagte sie leise, nicht zu mir, eher zu sich selbst. "Irgendwie wusste ich, dass Cat nicht in Amerika ist. Ich habe es gespürt, ich wusste dass sie irgendetwas anderes gemacht hatte. Und wenn, dann hätte sie wenigstens angerufen. Doch ich wollte nicht wahrhaben, dass sie nicht glücklich ist. Mir gefiel es, dass sie ein schönes Leben hat - und mich trotzdem nicht vergisst. Ich meine, mir ging es doch genauso. Ich habe sie nie vergessen. Manchmal war ich traurig, weil ich sie so vermisst hab, doch die Vorstellung, dass sie glücklich ist, hat mich aufgeheitert. Manchmal hab ich mitten im Laden angefangen zu weinen, wenn ich einen Strauß mit ihren Lieblingsblumen binden sollte. Oh Gott, und sie ist einfach weg. Ich war nicht mal auf ihrer Beerdigung. Falls sie überhaupt eine hatte. Sie hatte doch keine Verwandten mehr, und Freunde auch nicht. Man hat ihre Leiche wahrscheinlich weggeworfen, mehr nicht. Das hat sie nicht verdient, niemals." Ich sagte nichts. Ich weiß nicht, ob ich sie hätte trösten sollen, aber ich kannte Judith doch kaum. Es war sicherlich unvorstellbar schrecklich, zu realisieren dass jetzt auch ihre letzte beste Freundin tod war.
"Ich hätte dir den Brief nicht geben sollen", sagte ich schließlich.
"Nein, mach dir keine Vorwürfe. Es tut natürlich weh, sehr sogar, doch so ist das Leben. Und nur weil sie es beendet hat, heißt das nicht, dass ich es jetzt auch tun werde. Ich habe mein eigenes Leben und dieses mag ich. Aber, denkst du...das ich schuld bin? Wäre ich bei ihr geblieben, dann hätte sie sich doch nicht umgebracht, nicht wahr?" Ich schluckte. Auf so eine Frage gab es keine richtige Antwort, doch ich gab mein Bestes: "Ich weiß es nicht, niemand weiß was geschehen wäre. Außerdem kenne ich Cat nicht. Ich glaube aber, sie meinte, dass sie sich nicht umgebracht hat, weil du nicht mehr für sie da warst, sondern dass sie nur für dich gelebt hatte. Ich weiß nicht ob das gut oder schlecht ist, aber so ist es." Wir sprachen nicht mehr. Wir saßen nur nebeneinander, es herrschte Stille, nur die Schubkarre knartschte zwischendurch. Wir schauten uns beide nicht an, und trotzdem wusste ich, dass sie weinte. Sie gehörte anscheinend zu den Menschen die vermeindlich unbemerkt weinen können. Jedoch hörte ich, wie sie manchmal etwas stärker Luft holte und sich ihr Brustkorb darauf zitternd senkte. Ich hörte, wie sie ihre Tränen runterschluckte. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie zwischendurch ihre Hand hob und sich die Tränen aus dem Gesicht wischte. Ich habe ständig versucht, mich in Judiths Lage hineinzuversetzen, ich fragte mich, was sie wohl denke. Das war nicht leicht, deshalb sagte und tat ich lieber nichts, als etwas Falsches. Also saßen wir noch ein paar Minuten so da, vielleicht auch Stunden, ich verlor jegliches Zeitgefühl. Schließlich gingen wir wieder Richtung Rathausplatz, bis sich unsere Wege wieder trennten. Wir schwiegen, die ganze Zeit, es gab kein Tschüss, nichts.
Ich habe seit diesem Tag noch oft was mit Judith gemacht. Wir wurden recht gute Freunde.
Alles hat sein Ende, und meistens sind Enden traurig. Doch dieses war auf eine bemerkenswerte Weise schön. Judith hat Cat nie vergessen, sie dachte oft an sie. Und in ihrem Herzen blieb sie immer ihre beste Freundin, so wie es sich Cat gewünscht hatte.

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